Buchrezension: Konzept Integriertes Management von Dipl.-Volksw. Jörg Rieger erschienen in der November-Ausgabe 2017 der WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium.
„Was war zuerst da: die Henne oder das Ei?“ Was auf den ersten Blick so einfach, fast schon trivial klingt, ist bei näherem Hinsehen eine der größten Herausforderungen von (empirisch arbeitenden) Wissenschaftlern. Denn das Henne-Ei-Problem beschreibt die Schwierigkeit herauszufinden, welche Ursache-Wirkungs-Kanäle in der (Wirtschafts-)Welt bestehen. Sorgt die Entscheidung eines Managers für eine schlechte Entwicklung seines Unternehmens oder hat erst der Rückgang der Geschäfte dazu geführt, dass der Manager eben jene Entscheidung gefällt hat? In der Realität lässt sich, wenn überhaupt, nur mit geeigneten empirischen Methoden herausfinden, welche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge maßgeblich sind. In der Regel geht es über die Zeit auch nicht nur beständig in eine Kausalrichtung, sondern es gibt wechselseitige Effekte. Auch mit solchen Dynamiken können Empiriker zumindest auf der aggregierten Ebene teilweise relativ gut umgehen.
Dass es auch in Unternehmen unzählige Wechselbeziehungen gibt, liegt auf der Hand. Schließlich treffen trotz zu nehmender Automatismen nach wie vor Menschen sekündlich unzählige Entscheidungen, die nicht allesamt bis ins Detail abgesprochen sein können. In jedem Unternehmen sind es zudem tagtäglich voneinander unterschiedliche Entscheidungsketten, weshalb allgemein geltende theoretische und empirische Aussagen darüber praktisch unmöglich sind. Insofern braucht es für die Unternehmensführung neben einer gehörigen Portion Erfahrung auch Entscheidungshilfen – und zwar solche, die sich nicht wie ein Kochrezept lesen, sondern den gesamten Prozess von der Herstellung der Zutaten bis zum gemeinsamen Mahl in den Fokus nimmt. Solche, die zwar keine allgemein gültigen Kausalketten aufstellen können, aber empirische Evidenz beinhalten. Und solche, die eben nicht in der Flut der eigenen Komplexität untergehen.
In einem Unternehmen ist der Chefkoch der Manager und der Gast der Kunde. Ein weithin anerkanntes Kochbuch, das nicht nur Rezepte aneinander häuft, sondern über den Tellerrand hinaussieht, ohne den Blick fürs Wesentliche zu verlieren, ist der Orientierungsrahmen „Konzept Integriertes Management“. Dieses Standardwerk der Managementlehre ist vor kurzem in der neunten Auflage erschienen. Sein Vater und Vordenker ist Prof. Dr. Knut Bleicher, der Anfang des Jahres und damit noch vor dem Erscheinen der jüngsten Auflage nach einem reichhaltigen akademischen Leben im Alter von 87 Jahren verstorben ist. Und doch enthält auch die jüngste Fortentwicklung seine spezielle Handschrift. So sind nach dem facettenreichen Editorial des zweiten Herausgebers und Schriftleiters Dr. Christian Abegglen lesenswerte Impulse abgedruckt, die Bleicher noch vor seinem Tod für die neunte Auflage durchdacht hatte. Auf Seite 26 heißt es etwa:
„Wissen auf Abruf und Wissensaustausch ist heute so offen wie noch nie in der Weltgeschichte. Ob Führungspersönlichkeit oder Privatperson: Man steht heute vor der anspruchsvollen Herausforderung, hier sinnvoll mitzuwirken und daran teilzuhaben. Mehr noch: Indem man versucht, die auseinanderdriftenden Teilgesellschaften im Innern und Äußern durch Dialog zu integrieren und Menschen eine sinnvolle Aufgabe sowie Möglichkeiten der Verwirklichung verschafft, sichert man sich ein kleines Stück von Unabhängigkeit in Freiheit.“
In Worten wie diesen wird sehr schön deutlich, dass dem renommierten Wirtschaftswissenschaftler nicht nur der über viele Jahre geprägte Management-Ansatz aus dem schweizerischen St. Gallen am Herzen lag, sondern auch, dass er ihn stets gedanklich durch die neuesten Trends hindurchgeführt und immer wieder mit der Realität konfrontiert hat. So steht dieser gesamtheitliche Ansatz selbst in Zeiten der Digitalisierung, die so viele Veränderungen in den Unternehmen mit sich bringt, unverrückbar da wie das Matterhorn im Kanton Wallis. 25 Jahre sind ins Land gegangen, seitdem die erste Auflage erschienen ist. Seither ist viel passiert. Die vierte industrielle Revolution hält in immer mehr produzierenden Betrieben Einzug. Wenn Maschinen vermehrt untereinander kommunizieren, kommt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den Schnittstellen noch mehr Verantwortung zu. Der Manager muss dabei stets das große Ganze im Blick behalten und so gut es geht die sich laufend ändernden Schwachstellen realer sowie virtueller Systeme auf dem Schirm haben. Den Zusammenhang zwischen Unternehmenskultur und Unternehmensstruktur wird er nur erkennen, wenn er regelmäßig im übertragenen Sinne in einem Hubschrauber mit Glascockpit über den Dingen schwebt.
Abegglen selbst hat sich in einem eigenen Kapitel (S. 114–127) vier Denkfallen in der Praxiswelt „Industrie 4.0“ gewidmet, die auf Management-Ebene in einem Atemzug mit „Führung 4.0“ genannt werden sollte; als Fazit heißt es dort:
„Führung und Management brauchen die Bereitschaft und Überzeugung, zunehmender Komplexität nicht – erfolgslos – ausweichen zu wollen, sondern sich ihr zu stellen und ihr die Chancen abzuringen, die sie neben den Risiken mit sich führt. Das kann nur auf Basis ganzheitlicher, dynamischer, echtzeitfähiger und auf verteilte Intelligenz setzender Management-Ansätze gelingen.“
Was klingt wie die Quadratur des Kreises, ist in Wahrheit die Quintessenz dieses mehr als 700 Seiten umfassenden (Lehr-)Buches. Der Leser bekommt diesen St. Galler Management-Ansatz dabei nicht mit einem Male übergestülpt, sondern darf ihn sich sukzessive selbst erarbeiten. Alles andere hätte wohl auch keine lange Halbwertszeit. Die Autoren setzen dabei von Anfang an auf anschauliche Vier-Felder-Matrizen und eine betont integrierte Unternehmensentwicklung oder wie es der Eidgenosse Peter Ulrich, Urvater des Ansatzes, einst ausgedrückt hat, ein „Leerstellengerüst für Sinnvolles“, in jedem Fall: keine simplen Kochrezepte. Dazu dient das dreidimensionale, traditionelle St. Galler Management-Fundament aus normativen (S. 201–312), strategischen (S. 313–456) und operativen (S. 457–478) Beziehungen. Es ist unabdingbar – auch das wird an vielen Stellen im Buch deutlich –, diese drei Ebenen nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern alle gleichzeitig zu durchdenken – und vor allem die wechselseitigen Beziehungen aktiv zu gestalten. Die vielfältigen Spannungsfelder zwischen normativem, strategischem und operativem Management werden ebenfalls aufgezeigt, was die Lektüre noch wertvoller macht. Bleicher selbst ist schon frühzeitig für einen sogenannten Paradigmenwechsel des früher geltenden Führungsverständnisses eingetreten. Auch in der neuesten Auflage des „Konzepts Integriertes Management“ ist diesem bahnbrechenden Wandel ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 91–146). Darin heißt es auf Seite 140:
„Wir müssen einsehen, dass unsere Möglichkeiten zum Wahrnehmen und Verändern von komplexen sozialen Systemen außerordentlich beschränkt sind. Wir sollten uns vielmehr auf das verlassen, was wir wirklich beherrschen können: nämlich die Gestaltung von Rahmenbedingungen, in denen sich eine Evolution auch in ökonomischen und sozialen Systemen vollzieht. Dies verlangt, dass wir Eigengesetzlichkeiten bei der ökonomischen und sozialen Entwicklung stärker anerkennen. Führung sollte weniger das Verhalten unmittelbar und direkt lenken, als vielmehr mittelbar durch ein Organisieren des Dialogs über strategische Diskussions- und Definitionsprozesse.“
Hier sind sie also wieder, die Ursache-Wirkungs-Kanäle, die in Unternehmen kaum allgemeingültig, geschweige denn direkt beeinflussbar sind, weil zu viele erratische Entscheidungen von Menschen und Eigenarten eines jeden Unternehmens dahinterstehen. Von daher – so der Tenor in dem Lehrbuch – sind die Manager gut beraten, nicht aktiv in diese schwer durchschaubaren Prozesse einzugreifen, sondern den richtigen Rahmen zu setzen, damit sich die Organisationsform langfristig positiv entwickelt. Und das geht wiederum nur im ständigen Austausch. Ständiger Austausch bedeutet auch ständige Integration. So kommt es nicht von ungefähr, dass ab Seite 479 ein sogenanntes Integriertes Management bis ins kleinste Detail thematisiert wird.
Doch was soll denn überhaupt integriert werden? Im Idealfall natürlich alles mit allem, aber das wäre angesichts der irrsinnigen Komplexität eines Unternehmens unmöglich. Deshalb kommt man nicht umhin, sich der Integration mithilfe von Gedankenmodellen anzunähern. Eine Variante sind sogenannte Erfolgspotenziale aufzuspüren. Auf Seite 497 heißt es:
„Integrierte Programme zur Entwicklung von Nutzenpotenzialen sind in einen Rückkopplungsprozess eingebettet. Er geht von einer Analyse der Ressourcen und Fähigkeiten aus und führt über strategiegeprägte Entscheidungen der Integration zu einer potenzialorientierten Programmwidmung, um schließlich in einer rückkoppelnden Abstimmung aller Einflussfaktoren zur operationellen Handlungsvorgabe konkretisiert zu werden.“
Auf diese Weise können die normative, strategische und operative Ebene des St. Galler Management-Ansatzes miteinander verzahnt werden. Doch Integriertes Management bedeutet nicht nur eine sachlogische Verknüpfung von Problemlösungen. Auch die Menschen, allen voran die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen, müssen bei Veränderungsprozessen stets mitgenommen werden. Das Kapitel 9.3 beleuchtet den sozio-kulturellen Aspekt und damit vor allem den zwischenmenschlichen Umgang. Dieser wird besonders wichtig, weil den Unternehmen, wie bereits erwähnt, durch die industrielle Revolution tiefgreifende Änderungen ins Haus stehen. Mitarbeiter – um es etwas übertrieben-plastisch auszudrücken –, die gestern noch eine verantwortliche, händische Aufgabe direkt am Fließband innehatten, müssen morgen bereits in einem Großraumbüro an einem Monitor sitzen – und sich im Datendschungel zurechtfinden können. Das wird nur funktionieren, wenn sie einen Sinn darin sehen und von der Strategie ihres Managements überzeugt, ja besser sogar enthusiastisch angetan sind. Das zehnte Kapitel widmet sich sodann der Unternehmensentwicklung als Regulativ und Objektiv des Integrierten Managements. Dort heißt es zu Beginn (S. 572):
„Der Begriff der Unternehmensentwicklung stellt auf ein zeitbezogenes Phänomen ab: die Evolution eines ökonomisch orientierten sozialen Systems im Spannungsfeld von Forderungen und Möglichkeiten der Um- und Inwelt. Ausschlaggebend für diese Evolution ist die Stiftung eines höheren Nutzens relativ zum Angebot vergleichbarer anderer Wettbewerbssysteme durch die Bereitstellung und Inanspruchnahme strategischer Erfolgspotenziale.“
Es liegt in der Natur von Wirtschaftszyklen und struktureller Umbrüche, dass Manager ihre Unternehmen auch durch kleinere und größere Krisen hindurchsteuern müssen. Durch präsituatives Vermeiden von Pathologien und Überlebenskrisen, wird die evolutorische Selbstverstärkung abgefangen und damit ein Einbruch abgemildert, was in der Abb. 10.2 (S. 580) veranschaulicht ist. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels schließt sich der Kreis. Denn, so steht es in der Passage 10.6 (S. 638), das normative und strategische Management sowie die operative Führung wirkten in unterschiedlicher sachlicher und zeitlicher Dimensionalität auf die Unternehmensentwicklung ein. […] „Damit stellt sich im zeitlichen Spannungsverhältnis von normativem, strategischem und operativem Management das Problem der Gestaltung von Vor- und Rückkoppelungszyklen.“ Dieser Punkt wiederum steht in unmittelbarem Zusammenhang zu jenem, eingangs beschriebenen Problem, mit dem auch Zeitreihen-Statistiker konfrontiert sind, den gegen- seitigen Wechseleffekten. Eine seriöse, empirisch signifikante Lösung kann die Management-Lehre nicht bieten, wohl aber integrierte Ansätze, die sich schon vielfach in der Praxis bewährt haben. Der ständige Austausch zwischen Theorie und Wirklichkeit war vielleicht das wichtigste Credo von Bleicher. So lautet das Fazit des Werkes (S. 648):
„Insgesamt zeigt sich die Aufgabe für das Management der Unternehmensentwicklung und dem Innovationsmanagement darin, ein in sich pulsierendes System jenseits von Erstarrung und Chaos zu gestalten und zu lenken. Die Professionalität des Managements zeichnet sich dadurch aus, jede dauerhafte Extrempositionierung am einen oder anderen Profil zu vermeiden. Mit dem Konzept des Integrierten Managements gelingt ein dynamisches Management als „Herzschrittmacher“ der Evolution.“
Selbst für Bauchentscheider ist das Buch keine vergebene Liebesmüh’: Denn in die neunte Auflage wurde erstmals ein Leitsystem integriert, das dem Leser eine schnelle Orientierung ermöglicht. Auch an digitalen Zusatzangeboten wird nicht gespart. Zum Abschluss findet sich eine Würdigung des Lebenswerkes von Knut Bleicher (S. 649–680), verfasst von Prof. em. Dr. Dieter Wagner (Universität Potsdam). Darin heißt es:
„Knuts Ziel war, sein umfangreiches Werk über seinen Tod hinaus zu erhalten, gleichzeitig mit Neuem zu verbinden, zu modifizieren, neu anzuwenden und dadurch sicherzustellen, dass das profunde wissenschaftliche Gedankengut in die nächste Generation getragen werden kann.“
Nicht zuletzt die jüngeren Führungskräfte werden davon profitieren.
Erschienen ist die neueste Auflage im 25. Jubiläumsjahr dieses Standardwerkes im Campus Verlag (Frankfurt am Main/New York).
Dipl.-Volksw. Jörg Rieger, Würzburg
November-Ausgabe der WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium